alltagsszenen 39 - am tropf

 


 

ja, den grösseren teil des tages verbrachte ich gestern am tropf mit sicht auf ein bild, welches mich zum meditieren veranlasst hat. zuvor hatte ich eine stunde mit der ärztin gesprochen. sie hatte meine tränen gesehen. aber sie hat mich nicht einfach als "weinerlich" bezeichnet, wie im bericht eines grossen spitals zu lesen ist. ebensowenig hat sie mein ... benehmen als sinnlos und nicht verstehbar abgetan wie ein chefarzt einer psychiatrischen klinik vor einem kollegium in einer visite. solcherart hatte er mich blossgestellt und gedemütigt. nein, die ärztin gestern hat verstanden, dass ich über viele verluste traurig war, z.b. nicht einmal mehr aus eigener kraft in den nahen wald gehen zu können. sie hat anerkennend bemerkt, dass ich als mann tränen zulasse und zugleich fähig bin, meine lebensumstände zu überdenken, zu reflektieren. diese bemerkungen fielen am rande des gesprächs, das vor allem um chemotherapie drehte. aber genau diese wenigen anerkennenden und würdigenden worte haben mich ermutigt, mir selbstvertrauen zurückgegeben. danach ging ich nicht zum malen in eine atelier wie sonst am montag sondern hing für stunden am tropf für infusionen von misteln und chemo

solche einfühlsame menschen braucht unsere medizin, wenn sie wirklich helfen will. weit wichtiger als die ganzen medikamente ist, dass man als mensch erkannt wird. dass erkannt wird, auf welche ganz individuelle art ein mensch selbst die schwierigsten lebenssituationen nicht nur zu bewältigen versucht, sondern tatsächlich auch bewältigt - wenn auch manchmal nur mit bescheidenem erfolg

viel wird heute von ressourcen geredet - allzuviel. denn kaum jemand ist fähig, diese zu sehen oder während eines gesprächs aus einem bericht herauszuhören. deshalb werden so viele fragen gestellt. aber auch dann verpassen fragesteller gern die richtigen antworten ... nur wer die qualitäten eines menschen direkt zu beobachten und zu hören versteht, kann sie danach benennen, zurückspiegeln und damit auch würdigen. und das leisten nur wenige, eine diagnose- und massnahmenorientierte medizin schon gar nicht mehr