auf-blinden




auf-blinden schoss mir durch den kopf. ich notierte dieses merkwürdige wort. gehört hatte ich es nie. dann fiel ich in schlaf. am nächsten morgen, als ich die bereits vergessene notiz entdeckte, schien es stimmig; klang wie up-daten, die eigene blindheit à jour bringen, verleugnungen den umständen anpassen

ich knipste ein bild dazu. schliesslich wollte ich mal fotograf werden. nur in unseren träumen können ...
wir das schattenbild einer treppe besteigen. nicht im wachen. ist unsere kenntnis der realität nur ungenau, lassen uns trügerische bilder allerdings rasch glauben, wir könnten tatsächlich auf schattentreppen steigen. in wirklichkeit aber tappen wir blind herum, wahrscheinlich im kreis

in ihrem buch im jahr des affen beschreibt patti smith eine "heimsuchung" von ende 2015, eine "vorahnung künftiger dinge, gleich einem riesigen stechmückenschwarm, schwarze wolken, die auf fahrrädern taumelnden kindern den weg verdunkeln" und weiter: "die grenzen der realität hatten sich so verschoben, dass es notwendig schien, eine karte dieser neuen topograpfie zu erstellen." genau wie jetzt, dachte ich: mit dem begriff auf-blinden liesse sich vielleicht einiges klärend umschreiben

als wäre irgendwo eine riesige sicherung explodiert, wurde es mit dem 'lockdown' (look down - not forward!) schlagartig dunkel. wir wurden in die häuser gescheucht, die atmosphäre in zürichs strassen trostlos. ich ging so selten wie möglich lebensmittel einkaufen. trotz der deprimierenden umstände mündete die konversation einer kassiererin und mir eines tages in humorvolles lachen. sofort tauchte eine vorgesetzte auf und fing an, die kassiererin in strengem ton über distanzregeln zu unterweisen. mir tat sie noch lange leid. würde mit den neuen regeln gleich alles zu grabe getragen werden, was zwischen menschen für nähe und versöhnlichkeit gesorgt hatte? über nacht war ein unerwartet eisiges klima des zusammenlebens entstanden. die grenzen der realität hatten sich auf erschreckende weise verschoben

falsche prognosen, nichtssagende zahlen, schreckensbilder, erkenntnisse so winzig wie das virus, all diese dinge aufgeblasen zu ballonen sensationeller grösse platzten jeweils am nächsten tag schon und machten raum für neue katastrophenmeldungen; eine endlose flut von massnahmen bar jeder perspektive ausser der einfach zu überleben; meinungen, kommentare pausenlos und nach jeder massnahme bewertungen und weitere kommentare, auch über massnahmen, die gar nicht stattfanden. nachrichten konnte ich getrost vergessen

vor jahren beobachtete ich vom dach der elbphilharmonie aus eine bedrohliche rauchwolke über dem hafen von hamburg, vielleicht von einem brand her rührend. sie war am nächsten tag weg - ganz anders jetzt, wo düsterheit seit monaten auf uns lastet




die einzige wirklichkeit, die ich direkt beobachten kann, ist die wirkung der ereignisse auf meine umgebung. da sehe ich, wie viele, auch mir nahe menschen selbst bei ursprünglich harmlosen kleinen gesten des alltags jetzt von panik und angst regiert werden, etwa wenn sie kurz eine haltestange im öv anfassen müssen. als könnte so etwas bereits den tod bedeuten

einmal wartete ich gedankenverloren und unbeschwert allein an einer theke auf meinen cappuccino. jemand anderes trat etwas später auch an die theke, platzierte sich aber im nächsten moment fast mit einem sprung betont weit weg von der theke und mir ... nun ich kann nicht anders, ich fühlte mich abgelehnt; so etwas trifft mich, selbst wenn es anders gemeint sein mag. jedes herunterspielen meiner reaktion wäre ein auf-blinden. dann fuhr ich weg, in ein wenig besuchtes seitental
 
do streckte mir
als erstes
herzlich und natürlich
ihre hand entgegen
sie hatte vertrauen - sie bewies vertrauen
mit der berührung
bekannten wir beide:
wichtiger als anderes
sei das vertrauen
dass wir einander schenkten

es schien, als hätte do - die ich gerade erst kennen lernte - gespürt, dass ich diese tröstliche und wärmende geste brauchte nach vielen traurigen monaten in den kalten niederungen einer gefrorenen zeit




wieviel hatte ich nicht schon an nähe und geborgenheit verloren, zu denen berührungen natürlicherweise gehören, bis zum punkt, an dem ich mich manchmal nirgends mehr zuhause fühlen kann. vertrauen, ein gebilde so zart gesponnen wie das netz einer spinne, war erschüttert, das netz an manchen stellen eingerissen, hatte einer grossen verunsicherung platz gemacht. sollte das fortan wirklich unsere lebensweise sein?


mit dem bei uns typischen gries-lächeln


selbst wenn der alltag heute - monate später - in vielem normal zu sein scheint, mit seinen plakatkampagnen, desinfektionsflaschen überall und den neuen, bizarren regeln des zusammenlebens bleibt er für mich befremdlich. es anders sehen zu wollen, positiv zurecht biegen, was gar nicht positiv ist, das ist wohl das, was dieses wort auf-blinden meint, das mir eines abends aus dem nichts zufiel

desinfektion der hände anstatt anderen die hand zu geben. wo wir uns umarmten, gilt es jetzt distanz zu halten. mich hat überrascht, wie schnell sich menschen sogar begeistert von den neuen möglichkeiten zeigten, einander digital zu begegnen anstatt real. vielleicht sind solche dinge momentan notwendig, mehr aber gewiss nicht


nach dem aufblinden


manches lächeln anderen gegenüber ist gequälter geworden. auf-blindend erzählt es, dass diese schutzmassnahmen gar nicht so schlimm seien - sind sie aber, weil sie auch in unsere herzen wirken. ungewiss bleibt zudem, welche eine reale gefahr bannen und welche vielleicht nicht mehr sind als schattentreppen an einer wand




wir werden weiter um unser überleben strampeln, nicht wegen des virus, sondern weil man in einer falle nichts anderes tun kann, auch dann nicht, wenn man sich die falle selbst gestellt hat und sie vielleicht nichts mehr sein sollte als ein schattengespinst




ich fragte do nach ihren eltern. sie selbst, besonders aber ihre eltern als ältere menschen waren direkt betroffene mitten im sturm des in diesem winter trostlosen norditalien, der vater hat überdies einen tumor. die eltern sind wohlauf und guten mutes, hielten sich gut in jener zeit. während der isolation verschwand der vater jeden morgen durch eine tür in seinem garten, um den ganzen tag zufrieden dort zu arbeiten. abends verschwand er durch eine andere tür im haus, um in der nacht zu ruhen. do berichtet sehr anders - gelassener, zuversichtlicher - über die ereignisse als uns die medien glauben machen wollen. letztere vermitteln wohl mehr den dunklen schatten einer treppe als die realität. wohl starben menschen - viele; weit mehr aber lebten und leben noch heute. und sie tun es anders, als wir uns vorstellen

über das gesicht von do huscht schliesslich ein liebevolles lächeln, während sie mir das wort curare erläutert: es bedeutet nicht nur 'behandeln' (im medizinischen sinn), wie ich bisher - blind, weil unwissend - verstanden hatte, sondern steht ebenso für 'jemandem sorge tragen' ... so wie die eltern do sorge trugen, als sie klein war, tut  sie es heute, ihnen gegenüber, offensichtlich mit viel herz und dankbar ... hm, wo schauen wir eigentlich die ganze zeit hin?