tabu VII - ziehe schuhe und socken aus ...


schwindelerregende aussicht auf die eigenen füsse ... nicht so leicht zu zeichnen!

... und gehe mit nackten füssen weiter, den boden sanft berührend. du wirst mit den unterschiedlichsten blicken und kommentaren bedacht - weil du ein tabu brichst. aber jenseits davon warten ungeahnte sinnliche genüsse einzigartiger qualität auf dich ...

vor etwa eineinhalb jahren verliess ich eine erste konsultation bei einem osteopathen in einer ziemlich anderen körperhaltung als ich gekommen war. er hatte nichts davon gesagt, es kam mir unmittelbar nach der konsultation spontan in den sinn:

"du musst aus diesen klötzen von schuhen raus und benutze die 'barfussschuhe' von merrell wieder, die du vor vielen jahren einmal gekauft und damals so häufig getragen hast." sie standen - ziemlich abgewetzt - noch immer im kasten. von diesem tag an habe ich nur noch schuhe mit null-absatz getragen: die sogenannte 'sprengung' bringt nämlich das natürliche körpergleichgewicht, also die ganze haltung durcheinander. wir bemerken es einfach nicht mehr. bei vielen alten menschen sieht man allerdings die folgen sehr deutlich. man muss auf den erfolg also nur geduldig warten! ausserdem haben 'barfussschuhe' so dünne sohlen, dass man bei jedem schritt alle feinheiten eines bodens spüren kann ... eben fast so als ginge man barfuss

bald hatte ich das bedürfnis, die schuhe ganz los zu werden, und streifte sie immer öfter ab. was war das für ein genuss am frühen morgen barfuss ein steiles, vom tau noch nasses und kühles wiesenbord in einem stadtpark hinunterzusteigen, anstatt den öden, planierten fahrweg zu benutzen. unzählige, neuartige sinnliche erfahrungen drangen über meine sohlen in den körper. selbstverständlich waren für meine ungewohnten füsse manche zu beginn schmerzhaft. ich hätte manchmal schreien mögen, wenn ich auf rollsplitt geriet ... und musste schnell wieder schuhe anziehen. ich hatte überdies über monate einen neuen gang zu lernen, den gang über den vorfuss anstatt über die ferse. aber eines tages beherrschte ich auch das

heute haben sich im vorfuss und den zehen satte samtpolster gebildet, ganz ähnlich wie bei den pfoten einer katze, weich und mit einer kräftigen, ledrigen haut versehen. auf glattem asphalt habe ich das paradoxe, aber faszinierende gefühl, ich ginge über weichen grund. dies verdanke ich natürlich nicht dem asphalt, der an sich hart ist, sondern den samtpolstern. auch trete ich nicht mehr mit der ferse auf, was eben schmerzhaft ist, sondern lande bei jedem schritt auf zehen und vorfuss: diese haben ihre angeborene, enorme, federnde kraft zurückgewonnen, die in normalen schuhen verkümmert und so verloren geht. auch diese elastische landung vermittelt das gefühl von weichheit auf asphalt. und so ist er zu einem von vielen genüssen beim gehen geworden, wobei ich keineswegs das barfussgehen auf asphalt und in der stadt anpreisen möchte: richtig barfuss gehen lernt man erst in der natur, und dort erst kann sich sich die ganz breite an sinnlichen erfahrungen entfalten


gefährten am wegrand

heute kann ich auch über kiesel, teilweise rollsplitt und steine in den bergen gehen, ohne dass es mehr schmerzt, natürlich noch immer nicht über jeden grund. aber darum geht es nicht. es geht überhaupt nicht darum, härte zu beweisen oder eine besondere leistung zu erbringen, sondern darum, dass ich in einen bereich sinnlichen genusses gedrungen bin, den ich nie mehr missen möchte und der den meisten menschen für immer verborgen bleiben wird

kürzlich wanderte ich barfuss in den alpen einem schräg abfallenden wiesenbord entlang. mit schuhen wäre dies beschwerlich gewesen. ich hätte ständig darauf achten müssen, nicht abzuknicken. aber der fuss ist so gebaut, dass er nackt diese schräge sogar bequem findet und geniessen kann. es war ein warmer tag. die sonne hatte kurz zuvor den boden und das hohe gras erwärmt. dann hatte es zu regnen begonnen und das gras war feucht und etwas kühler geworden. nach dem kurzen regenguss trocknete das gras gerade wieder ab. es lässt sich nicht beschreiben, wie wunderbar sich das anfühlt, wenn man von einem schritt zum nächsten von einem noch kühlen, feuchten grasfleck im schatten in einen nächsten wieder an der sonne tritt, bei dem das gras schon feuchtwarm und der boden darunter noch immer voll von vorher gespeicherter wärme ist


stille begleiter am wegrand


gehe ich barfuss in der natur, bietet jeder einzelne schritt eine neue und andersartige, nicht vorhersehbare sinnliche erfahrung, weil die fusssohlen genau wie die hände über eine menge sehr feinfühliger rezeptoren verfügen. dazu zu sagen "der weg ist das ziel" stellt eine ungemein platte und hohle intellektuelle aussage dar, bar jeder gefühlsregung und deshalb im grunde masslos dumm. man muss diese erfahrung schon machen, um dann sprachlos und überwältigt in eine ungekannte und kaum beschreibbare welt einzutauchen, oder besser gesagt hineinzuschreiten ... aus der man am liebsten nie mehr auftauchen möchte, ganz wie bei einem besonders schönen traum. das denken verstummt. vielleicht gleicht diese fortbewegung dem lautlosen tanz eines schmetterlings, der leicht über eine wiese von blume zu blume schwebt

ein vergleich: essen ist durchaus ein genuss, den ich weiterhin nicht missen möchte. aber das fassungsvermögen des magens ist sehr beschränkt, entsprechend kurz der genuss. überdies stellt ein schon etwas zu voller magen rasch eine last dar. die allerdings kann über lange stunden andauern. ganz anders das barfuss gehen: geübte füsse können stundenlang barfuss gehen. der genuss wechselnder, sinnlicher erfahrungen zieht sich schier endlos hin. und wenn man dann rastet, bleibt ausser einer angenehmen müdigkeit und dem weiteren genuss des verdienten ruhens nichts, was den körper belastet. im gegenteil: die muskulatur meiner zehen und füsse ist über dieses jahr stärker geworden, mein gang sicherer und wendiger

gewiss bin ich etwas langsamer, wenn ich barfuss gehe, auch behutsamer, umsichtiger, wacher. aber was bedeutet es schon, langsamer zu sein? die frage nach einer leistung ist schlicht sinnlos, wenn jeder augenblick sich in sich selbst vollkommen erfüllt. kein wunsch bleibt übrig. was will ich mehr? aus dieser erfahrung erscheint mir das prinzip der leistungsgesellschaft noch paradoxer als zuvor schon. diese verspricht einen lohn erst aufgrund der leistung. ich bin zum warten verdammt. gewiss erbringe ich beim gehen nach wie vor die leistung, eine strecke zu gehen, langsamer zwar, dafür mit tausend mal mehr inhalt oder qualität, als wenn ich auf ein orts- oder zeitziel ausgerichtet losziehe. am ende des tages kann ich nicht mit einer zahl, einer besonderen leistung aufwarten. ebensowenig habe ich etwas zu erzählen; zu dicht und zu flüchtig die sich rasch abwechselnden erfahrungen. sie sind mit worten schlicht nicht fassbar, oft kaum zu erinnern. zurück bleibt also leere - jedoch eine leere, die erfüllt ist und auf geheimnisvolle weise nicht näher bezeichenbar bleibt




noch etwas ist bemerkenswert, dessen bedeutung nirgends erwähnt wird. es ist ein grossartiges wunder der natur: fusssohlen nützen sich im gegensatz zu schuhsohlen nicht ab. sie mögen nach einem gang über steine etwas rau werden. aber am morgen danach sind sie wieder spiegelglatt. sie regenerieren von selbst. kein schuh, keine industrie kann so etwas auch nur annähernd leisten!

ach ja: wegen rückenbeschwerden, an denen ich über 40 jahre gelitten hatte und die mich zeitenweise sehr beeinträchtigt haben, bin ich ursprünglich zum osteopathen gegangen. ja, diese beschwerden sind inzwischen nur noch geschichte. ich weiss heute, dass das auftreten auf der ferse, die beschwerden verursacht und aufrechterhalten hat. also der gang, den menschen fast auf der ganzen welt praktizieren und für richtig und normal halten. nur kleinkinder praktizieren noch das gehen über den vorfuss, wenn sie das gehen erlernen. bald danach verlernen sie es dank starrer schuhe und erwachsenen vorbildern. trotz aller dämpfung in den absätzen jagt beim auftreten auf der ferse bei jedem schritt ein widernatürlicher, starker schlag durch das ganze skelett. von den beschwerden, die auf diese weise entstehen können, wusste in keiner einzigen behandlung jemand etwas, egal ob ich in der schul- oder alternativen medizin gelandet war. kein wunder gingen meine beschwerden nie ganz weg!

mehr dazu im blogeintrag tabu I - über schuhe


männlicher akt mit fuss- und rückenlandschaft


tabu ist eine reihe von kurzen berichten zu themen, über die niemand ein wort verliert, weil wir alle denken, dass wir es schon besser wissen und uns deshalb schon gar keine gedanken mehr zu machen brauchen. weitere berichte siehe labels, stichwort "tabu"