jedoch,
selbst wenn du mich
mit einem einzigen schnitt
aus deinem leben
entfernen kannst,
es ist dir
mit keiner kraft
des universums
möglich,
dich auch nur einen einzigen zentimeter
aus meinem herzen
zu entfernen
an eine epoche, die von zärtlichkeit kaum mehr weiss, und zu einem mysteriösen bild: eine erzählung in form eines briefs ...
dein blick schien schon eine weile auf mir geruht zu haben, während ich in gedanken versunken eine treppe hoch gestiegen war. so stand ich oben angekommen unerwartet dir gegenüber. am meisten überraschte mich dein blick. jetzt, nachdem du vor mehr als zwei jahren abrupt jeden kontakt abgebrochen hattest und ich nichts mehr von dir gehört hatte, schautest du, als hätten wir gestern erst innige stunden und vertraute gespräche geteilt. du hattest einen ausdruck auf deinem gesicht, den ich während der ganzen gemeinsamen zeit nur ein einziges mal gesehen hatte. damals hieltest du die augen geschlossenen. jetzt waren sie offen, schaute dein gesicht, schaute alles – ich glaube, dir war das nicht bewusst – sanft, weich, zärtlich und liebevoll auf mich
du würdest diese charakterisierung kaum mögen. ich hatte früh gelernt, wie sehr du worte hasstest, welche mit zärtlichkeit zu tun haben. wenn du eines hörtest, erstarrtest du. einmal bist du auf der strasse mitten in den autos stehen geblieben und hast mit einem beunruhigenden glühen in den augen voller abscheu von den 'z-worten' gesprochen, als wären wir komplizen in diesen dingen. waren wir nicht, mein verhalten liess da bestimmt keine fragen offen. erschrocken über diese tatsache war ich allerdings, sehr sogar, und sie machte mich traurig. - konnte dieser blick also jetzt wirklich sein? ja, ich bin sicher, dass ich mich nicht getäuscht habe: als wir einander oben an der weissen treppe begegneten, war dein blick zärtlich. er ging mir nah, zu nah, denn er stand in einem unfassbaren gegensatz zu unserer letzten begegnung. ich hätte dich jetzt in die arme schliessen und an mich drücken wollen, wie man dies tut, wenn man jemanden lange und stark vermisst hat ...
… wenn nicht eben dieser bruch gewesen wäre. die erinnerung daran schnürte mir die kehle zu und ich war zu nicht mehr als einem unbeholfenen, distanzierten gruss fähig, bevor ich meinen weg durch die stadt fortsetzte. - zeitgleich mit einem leid, von welchem du notfallmässig durch einen chirurgischen eingriff befreit werden musstest, wurde auch ich vor gut zwei jahren akut und ebenso restlos aus deinem leben entfernt, so dass ich von einer stunde auf die andere dort nichts mehr zu suchen hatte. 'die beziehung cutten' hast du damals wörtlich gesagt. das war schon schmerzhaft genug. dann bezeichnetest du unsere beziehung als etwas, was 'weder fisch noch vogel' sei. erneut daran zu denken weckte den alten schmerz und ich musste in den folgenden wochen viel an unsere gemeinsame zeit denken. erst jetzt gelang es mir, mich dem magischen bann zu entwinden, den dieses 'weder fisch noch vogel' ausgeübt hatte. was für traurige und lieblose worte des abschieds das gewesen waren. du hattest von "unserer" beziehung und so für beide gesprochen. aber diese worte spiegelten einzig deine sichtweise, umschrieben wahrscheinlich etwas von deiner haltung
mir drängt sich ein anderes sinnbild auf. noch heute erscheint mir jeder einzelne moment kostbar, den ich mit dir geteilt habe, auch wenn unsere zeit alles andere als einfach gewesen ist. ich würde nicht einen missen wollen. zwar hadere ich damit, dass erinnerungsbilder mich unvermittelt in ganzer lebendigkeit überfallen können, denn es gibt keine gemeinsame zukunft mehr. aber sie sind zu wertvoll, um zerstörbar zu sein. das einzige, was ich damals mit uns im sinn hatte, auch wenn es lange nicht immer gelang, war: momente, begegnungen schaffen, die für uns beide kostbar sein würden. jeden tag mehr davon. ja, ich hatte etwas vor mit dir, auf lange zeit. ein treffendes sinnbild wäre: eine kette gebaut aus wertvollen edelsteinen, die mit jeder gemeinsam geteilten erfahrung um einen stein reicher und länger wird. unsere kette enthielt bereits mehr davon als erwartet, wie ich an meinen erinnerungen ermessen kann. von klar und hell leuchtenden bis dunkel-mysteriösen, auch rauhen, ungeschliffenen, einigen unscheinbaren oder gar abgebrochenen … aber alle gehörten dazu und bildeten ein stetig wachsendes, gemeinsames kunstwerk, das ich mochte und fortsetzen wollte … dann hast du plötzlich die schnur durchgeschnitten, die alles zusammenhielt, bist entflogen, vielleicht wie ein scheuer, kleiner vogel, der eine weile auf einem ast gesessen hat und dann spurlos im wald verschwindet
jedoch, selbst wenn du mich mit einem einzigen schnitt aus deinem leben entfernen kannst, es ist dir mit keiner kraft des universums möglich, dich auch nur einen einzigen zentimeter aus meinem herzen zu entfernen. das war nach vielen tagen des nachdenkens die eine tröstliche und erlösende erkenntnis. so bewahre ich diesen gemeinsamen schatz und trage ihm behutsam sorge
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viel zeit ist verflossen seit der begegnung auf der weissen treppe. wie ich diese zeilen in alten notizen entdecke, realisiere ich, wie sehr manche erinnerung verblasst ist. du lebst inzwischen in einer anderen stadt, so kreuzen sich auch unsere wege nicht mehr. wenig wahrscheinlich, dass du diese zeilen je entdecken wirst, denn für meine texte hast du dich nie interessiert. so schreibe ich in die leere hinaus, in das nichts … die worte selbst jedoch, sie sind nicht nichts, sie erinnern an eine einzigartige zeit, mehr noch daran, dass zärtlichkeit eine unantastbare kraft ist, die grösste überhaupt: sie vermag das universum zusammenzuhalten, so dass auch du darin geborgen bleibst, was auch immer geschieht. hier in zuneigung denn ein weiterer – vielleicht der letzte – diamant unserer kette. und wenn ich etwas für immer bewahren möchte von unseren begegnungen, dann ist es dieser blick auf der treppe, den du mir ein einziges mal geschenkt hast - erst lange nachdem unsere gemeinsame zeit bereits vorbei war. f