the dark man



 

ich habe kaum schlafen können diese nacht. eine eigenartige und unerklärliche unruhe plagte mich fast die ganze nacht. am morgen, als ich frisch geduscht und rasiert aus dem zimmer trat, sah ich als erstes die elektrisch-tote kerze an der tür gegenüber und wusste bescheid. wieder jemand gestorben, eine junge frau, die während ihres ganzen aufenthalts hier das bett nie hat verlassen können. wollte sie rauchen, wurde ihr bett jeweils auf die terrasse geschoben. ich habe häufig in der nacht ihre verzweifelten schreie gehört. meine verstörtheit der vergangenen nacht war auch geklärt. jedesmal, wenn jemand in einem der umliegenden drei zimmer stirbt, passiert mir das. ich spüre das sterben durch die wand, ohne dass ich weiss, was da vorgeht. ja, es sind schon viele in meiner unmittelbaren umgebung gegangen. und ich habe schon andere male diese verzweifelten schreie in der nacht gehört

judith, die mit mir seit monaten das mittagessen teilt, eine 89-jährige frau, kam heute tief über ihren rollator gebückt zum essen. konnte kaum mehr stehen und atmen. neulich war sie ganz grau im gesicht. und ihr gesicht erinnerte mich an eine maske. ja, auch sie geht dem ende entgegen. ich habe diese frau gerne bekommen, obwohl es mit ihr alles andere als leicht ist. habe ihre gewohnheiten studiert, so genau, dass ich ihr kleine wünsche erfüllt habe, die nicht mal nächste angehörige ihr erfüllen. ich habe sehr viel über das leben dieser frau erfahren, die aus ärmsten verhältnissen stammt und sich manchmal mit worten kaum auszudrücken versteht. ich kenne sogar ihre tochter, ihren sohn und einen enkel. jetzt weiss ich, dass sie bald nicht mehr zum essen kommen wird

nach dem essen lief ich den gang des 4. stocks entlang, den ich selten gehe, weil ich dort nicht selbst wohne. an einer weiteren tür hing noch eine kerze. ach, auch stephan ist gegangen. ich habe ihn selten gesehen. einmal an judiths geburtstag kam er hinunter und hat mit uns gegessen. er sass neben mir und hat mir eine berührende geschichte erzählt. als kind hatte er einen raben oder eine krähe zum freund. er hatte diesen vogel, der aus dem nest gefallen war, zu sich genommen und aufgezogen. der rabe holte ihn immer von der schule ab. und wehe, ein anderer junge hätte den stephan angegriffen. der rabe beschützte den jungen und griff andere kinder zu seinem schutz sofort an. also: auch stephan ist jetzt tot

ich wollte und ging zu morris, der einige male mit uns zu mittag gegessen hat und plötzlich nicht mehr erschienen ist. als ich in sein zimmer trat, wurde mir kalt und ungemütlich. grosse unordnung empfing mich und es war dunkel, denn der vorhang war gezogen. morris lag im bett, rührte sich kaum, war aber halbwegs wach. als er mich anschaute, packte mich ein schauder: er öffnete die augen nur ein wenig. die pupillen waren nach oben gedreht und seine augen irgendwie milchig trüb. als ich nach wenigen minuten ging, murmelte er leise: "bis später." er schien nicht bei sinnen zu sein

anmerkung: alle namen zum schutz der persönlichkeitssphäre abgeändert