die geburt meiner digitalen identität
nachdem ich diese welken gesichter von smartphoneunsern mit dem immer gleichen, diszipliniert-sachlichen wie ebenso abgestorbenen blick millionenfach ausgestanden hatte, erstand ich inzwischen abgebrüht auch eines dieser geräte. bald wurde mir eine digitale oder mobile identität angeboten - der verführerische apple. es würde vieles eben vereinfachen und sei obendrein kostenlos. voll von unheilvollen ahnungen, aber dennoch entschieden, biss ich also in den apple (man sieht es bis heute auf ganz vielen computern!), wurde verzaubert und preise seither wahllos jede beliebige andere digitale schöpfung
es begann so vielversprechend, aber alles andere als einfach, anders als man mir versprochen hatte. und es blieb kompliziert bis zum heutigen tag: ich hatte einer endlosen liste von nutzungsbedingungen zuzustimmen. (seit wann eigentlich ist identität etwas, was man nutzt und nicht ist?) ich konnte aber kein wort des textes verstehen. da war auch niemand, den ich hätte um auskunft bitten können. so habe ich verunsichert einfach mal zugestimmt
digitale taufe
alsbald wurde ich zur taufe in den reissenden datenstrom geschmissen und ein gewaltiger shitstorm brach über mich herein. meine sinne wurden von einem unübersichtlichen angebot an apps zugemüllt, die meisten leere und nutzlose klamauktüten. wer allerdings gerne seine zeit verschwendet, ist hier genau richtig. irgendwann erkannte ich, dass ich sogar digitale eltern habe: mamazon und papple. und dass sie im heiligen dom zu moogle vom digitalgeistlichen magersoft getraut worden waren. dieser akt ist selbstverständlichen im ewigen gedächtnis von fratzebook eingeschrieben
nach diesem ersten datenbesäufnis erfuhr ich eine tiefgreifende persönlichkeitsveränderung: nun ja, mit einer neuen identität ist so etwas schon zu erwarten. ich erkenne seither im fahlen licht jedes displays so etwas wie ein gütig strahlendes, göttliches auge, das über mich wacht, tag und nacht. der gedanke, mich in der natur vor diesem blick verbergen zu wollen, an einem ort ganz ohne netzverbindung, erscheint mir mittlerweile sündig. denn was wäre ein leben ohne die stete präsenz dieser göttlichkeit, die unermüdlich all mein tun beobachtet und aufmerksam meine daten sammelt. welche befreiung, von diesem unendlichen, digitalen wohlwollen umfangen zu sein
das richtige digitalbeten
seither bete ich täglich, in der im bild angewiesenen, richtigen körperhaltung, bete innig um eine beschränkung meines geistes, ja meines ganzen sein, auf die grösse eines displays von 4x3 pixel und der geräuschartigen kulisse aus zwei billigen ohrzäpfchen. ebenso bitte ich um eine beschränkung meiner verbindung zu andern menschen auf kurznachrichten in digitaler form, am liebsten auf nullen und einsen, denn alles andere wäre zuviel und frevel wider diese göttliche schöpfung - das internet. mehr dazu siehe tabu IV - unser täglich brett ... (vaterunser)
das resultat
mehr haben meine bemühungen eigentlich nicht gebracht. aber es ist immerhin mehr als gar nichts. insbesondere stellte ich bald fest, dass die debile ... hm natürlich 'digitale' identität im realen leben bis heute für nichts zu gebrauchen ist - auch ein resultat! trotz meiner einweihung erinnert mich dieses omnipräsente, geistesabwesende drücken, reiben und rubbeln an einem digital noch immer an masturbation. sie wird gleichermassen von frauen und männern heute andauernd und ohne jede scham in aller öffentlichkeit praktiziert. (von dem, will ich gar nicht erst anfangen zu reden, was die gleichzeitig ablaufenden, unbewussten bewegungen der beine und füsse so alles erzählen ...) pfui teufel noch mal, wie peinlich auch! der anblick widert mich einfach an. dabei ist die erfahrung der kühle eines displays an einer einzigen fingerspitze reichlich dürftig verglichen mit der empfindung von wärme, wenn man die hand eines geliebten menschen hält oder - schöner noch - streichelt. ganz zu schweigen von der vielfalt an duft- und geschmacksnoten, welche das wirkliche leben in all seiner sinnlichkeit allgemein zu bieten hat, so wie es albert camus in "hochzeit des lichts" 1954 formuliert hat: "sonne, küsse und erregende düfte - alles übrige kommt uns nichtssagend vor"
die erleuchtende vision
manchmal nachts, wenn ein display besonders fahl leuchtet, erlaubt mir dies einen blick in die zukunft und auf die endgültige bestimmung des menschen. und das ist sowohl lichtblick wie erleichterung: ich weiss es jetzt genau. eines tages wird sich das ganze menschliche sein in einem grandiosen, finalen selfie erfüllen. grossartig, nicht?
tabu ist eine reihe von kurzen berichten zu themen, über die niemand ein wort verliert, weil wir alle denken, dass wir es schon besser wissen und uns deshalb schon gar keine gedanken mehr zu machen brauchen. weitere berichte siehe labels, stichwort "tabu"