optimissmut III - ein 'literarisches selfie'
"obwohl der zug ziemlich voll war, blieb ich ausgesprochen ruhig, nett und höflich ... zu mir selbst, meinem smartphone und meiner tasche. ich schaffte es, für uns drei ein ganzes abteil zu verteidigen, weswegen ich mich mir selbst gegenüber sehr dankbar fühlte. ich vergass auch nicht, diese dankbarkeit leise zu mir selbst mit "gerne" (geschehen) zu quittieren.
danach schenkte ich während der ganzen fahrt meine aufmerksamkeit ungebrochen dem smartphone. es sind leider nur wenige, die der allgemeinheit so viele dienste der selbstgefälligkeit anbieten, oder etwa nicht?"
(der autor des blogs, der rüppelhaft im selben abteil einen platz beansprucht hat, hat nicht nur - ohne eigentliche erlaubnis - diese zeichnung seines rücksichtsvollen mitreisenden angefertigt, sondern stellvertretend für ihn die obigen worte verfasst. denn dem wäre es in seiner bescheidenheit schlicht zu weit gegangen, auf diese Weise seine anerkannten gesellschaftlichen vorzüge selbst zu preisen)
ein selfie ist ...
... ein digitales, mit einem smartphone angefertigtes selbstportrait. es dient - wie könnte es anders sein - unter anderem dem 'selbstmarketing' (s. wikipedia). unausgesprochen bleibt, da als selbstverständlich vorausgesetzt, dass man auf einem selfie sein sonntagsgesicht inszeniert: man posiert eitelkeit, stets mit einem lächeln im gesicht, ist überall der frohe tourist an einem schönen ort in einem tollen urlaub, rundum zufrieden ... wie es im echten leben eben ist!
selfies finden massenweise verbreitung, wie kaum etwas anderes, und kennzeichnen die selbstbezogenheit des heutigen menschen auf so treffende weise, dass sie vielleicht einst in geschichtsbüchern eine epoche charakterisieren werden - die selfie-epoche. umso seltsamer, dass sich das selfie nur rudimentär entwickelt hat, meines wissens nur in der form eines simpel gepixelten bildes existiert und sich häufig auf ziemlich stupide darstellungen beschränkt. höchste zeit für das selfie in worten. das beispiel möge als historischer und befreiender anstoss verstanden werden und andere ermutigen. vielleicht ist es das literarische urselfie überhaupt und vielleicht entwickelt sich das selfie noch zu einer eigenständigen literarischen form