Via Alpina



Campo Moro (I). Via Alpina, roter Weg Etappe R77



Foto: Ambrosius Huber
Wochenlange durch die Alpen schweifen ... wozu überhaupt?

Es passiert etwas - mit mir: "ich" wird reduziert. Atmen, gehen, ruhen, trinken, essen, Begegnungen. Reduktion auf weniges. So nehme ich nur das mit auf die Reise, was ich wirklich brauche. Und das sind einfache Dinge. Dafür werde ich umsichtig, sparsam, besonders was die eigenen Kräfte angeht.

Wochenlange folge ich einer schmalen Wegspur, ausgesetzt jeder Temperatur und Witterung, gehe, manchmal leicht, manchmal beschwerlich, auf Fels und Erde durch Landschaft und Vegetation, quere gelegentlich Gewässer. Dies alles gibt es in dieser Form schon seit Jahrtausenden - in Stille. Geräusche von Wasser, Wind, Tieren. Ich bin keineswegs Beherrscher dieser Erde, sondern ein Geschöpf wie alles andere, die anderen Tiere, Pflanzen, Steine... jedes Geschwätz verstummt. Wie wohltuend! Stille bleibt und der Rhythmus meiner Schritte...

Falls es eine Erkenntnis gibt, dann die: ich kann nichts verpassen, habe noch nie auch  nur einen einzigen Augenblick von Sein verpasst.




Die Via Alpina ist ein Netz von Wegen, welches durch mehrere Länder von Triest nach Monaco führt. 2006 habe ich die Grande Traversata delle Alpi (GTA) entdeckt. Von diesem Weg begeistert erkunde ich seither jeweils im Sommer längere Strecken der Via Alpina.




Begegnungen? Ja, intensive! - Andere Wanderer hatten mich gewarnt. Ich würde an jenem Wochenende keine Unterkunft finden im Rifugio Alpe Laghetto (Italien, GTA und Via Alpina D7), weil dann eine traditionelles Fest stattfände. Als ich anrief, bekam ich sofort einen Schlafplatz - als einziger Nicht-Italiener, Fremder und Wanderer in jener Nacht. Aus den Dörfern der Valle Bognanco stiegen Einheimische mit mir den steilen Weg zur Hütte hinauf. Junge, Alte, Greise, Kinder, Mütter, Väter - auch Säuglinge wurden hochgetragen. Das war ungewohnt. Sogar vom fernen Mailand waren welche dabei.




Seit drei Tagen waren Frauen und Männer oben mit Vorbereitungen für das Fest beschäftigt. Eine alte Frau führte mich in die Wiesen hinaus und zeigte mir wilden Spinat, mit dem sie Eierspeisen und Gemüsewähen für das Festessen zubereitet hatte. Als ich ihn abzuzeichnen begann, kamen Männer herbei und brachten mir Blüten der Génépi (Ährige Edelraute), die sie weiter oben gesammelt hatten. Diese Pflanze wird im Piemont zur Herstellung von Kräuterlikör verwendet. - Welches Fest an jenem Abend. Spät dann ein Höhenfeuer und dazu Glühwein ... Welche menschliche Wärme, welche heitere Geselligkeit, welche Gastfreundschaft. Berührend! Aber: wozu denn so weit laufen? Das bietet doch heute in nächster Nähe jede geile eventlocation ;-) ...

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Diesen Sommer bin ich auf der Via Alpina von Oberstdorf (D) über Feldkirch (A) und Steg (FL) nach St. Antönien (CH) gewandert und habe so das grosse Walsertal kennen gelernt.


Bald nach Buchboden gelangt man nach St. Gerold mit seiner Benediktiner-Probstei (Österreich, Via Alpina R54) Dieser Ort hat eine besondere, mit Worten nicht zu fassende Ausstrahlung. Ich habe dort eine Nacht verbracht und zuvor am Nachmittag über eine Stunde vor den Kirchenfenstern gesessen. Diese wurden 1999 von Kim en Joong geschaffen, der aus Südkorea stammt, ursprünglich Buddhist war und und heute in Paris als Dominikanerpater lebt. Kein einziges Kreuz in seinen Bildern, keine religiöse Symbolik, kein Inhalt, nichts an dem das verstandesmässige Denken sich festhalten könnte. Farbiges Leuchten, abstrakte Formen, fliessende Muster, strahlendes Licht ... Bei längerem Betrachten - so man sich dem überhaupt hingibt - gibt das Denken schliesslich auf und ...

Pater Kolumban Reichlin hat mir in einer kurzen Begegnung erzählt, dass Kim en Joong genau diese Wirkung beabsichtigt hat, um so eine Gotteserfahrung zu ermöglichen!

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Nachfolgend drei Eindrücke aus der Schweiz zwischen Altdorf und Engelberg. (Via Alpina C7)

nach einem langen Aufstieg ... Weitsicht

etwas weiter unten: endlich Schatten, den Durst löschen, rasten, ruhen...

... umgeben von steilen, abweisenden Wänden

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Ursprünglicher Ausgangspunkt der Grande Traversata delle Alpi (GTA): die Madonna della Gurva in Molini di Calasca, Valle Anzasca in Italien. (Via Alpina D11)


Die GTA bietet Einblick in verschiedene Kulturen, Bauweisen, Lebensweisen. Man geht während Tagen durch Gegenden und Dörfer, welche von Walsern besiedelt wurden, z.B. Carcoforo. (Via Alpina D13)


 ... viele Tage später eine Siedlung von Waldensern

Balsiglia, Italien (Via Alpina D39)


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Am Ende einer Tour bleibt jeweils eine Collage an Quittungen mit Kuriositäten wie z.B. die erstaunliche Tatsache, dass man in der Mindelheimerhütte (D) eine "Schlafmarke" erhält.


Das Ende der Via Alpina allerdings führt dorthin zurück, wo sie ihren Anfang genommen hat: zum Meer